Die Eltern sind Entertainer ihrer Kinder
Ihr aktuelles Buch hat den Titel „Der Tyrannenkinder Erziehungsplan?“ Wie kommen Sie darauf?
Leibovici-Mühlberger: Menschen sind heute in ihren Grundwerten sehr fragend aufgestellt. Frei nach dem Motto: Was nützt ist erlaubt, nix ist fix, alles ist möglich. Das scheint zunehmend auch eine Benchmark für gute Elternschaft zu sein. Man darf ein Kind heute nicht mehr führen sondern muss es begleiten. Man vertraut auf das Kind und dabei findet eine Verantwortungsumkehr statt. Wohlmeinende Eltern, die für ihre Kinder nur das Beste wollen, produzieren damit Kinder, die orientierungsschwach sind und Werte wie Treue, Fleiß, Selbstdisziplinierung, Konsequenz oder Bedürfnisverschiebung nicht mehr lernen, weil es mühevoll ist. Wir leben in einer Spaßgesellschaft, alles soll lustig sein, die Eltern sind Entertainer ihrer Kinder und die Pädagogen sollen das auch sein. All die Dinge, die eigentlich Freunde machen, aber Anstrengung und Konsequenz brauchen, geraten in den Hintergrund. Am Ende haben wir Kinder, die nach Orientierung suchen und Jugendliche, die mit den Konsequenzen dieser fehlenden Orientierung konfrontiert sind; etwa, dass sie es nicht mehr schaffen, pünktlich am Arbeitsplatz zu erscheinen.
Was können Väter zur Erziehung beitragen?
Martina Leibovici-Mühlberger : Sie können sich in die Erziehungsarbeit einbringen, an der Familienarbeit beteiligen, die Rollenfunktion des Vaters leben und Vorbild sein.
Hat sich der Stellenwert des Kindes in den letzten 50 Jahren geändert?
Leibovici-Mühlberger: Ja, vor allem, weil wir viel weniger Kinder bekommen. Bei 1,41 Kindern pro Frau ist der Druck hoch, dass dieses eine, erste Kind „gut gelingt“. Es fehlt die Lockerheit, Eltern werden mit Expertenratschlägen regelrecht zugemüllt. Das hat es früher nicht gegeben. Und damit hat sich der Stellenwert des Kindes dramatisch geändert. Das Kind wird mehr und mehr „zum Produkt“.
Verlassen sich Eltern zu wenig auf ihr Bauchgefühl?
Leibovici-Mühlberger: Ja, wobei die Frage ist: Haben sie überhaupt noch ein Bauchgefühl? Ich erlebe durchwegs junge Eltern, die selber schon sehr weit weg von einem selbständigen Spüren sind. Jene Eltern, die nur von den Tipps und Vorgaben über richtige Erziehung und Förderung verunsichert sind, kann man relativ leicht in der Beratung zu sich selber führen und ihr Vertrauen in ihre eigenen elterlichen Fähigkeiten stärken. Für jene, für die das Kind ein Objekt in ihrem Lebensentwurf ist, bei denen ist es sehr viel schwieriger.
Ein afrikanisches Sprichwort lautet: Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf. Ist die Erziehungserfahrung von Großeltern, Nachbarn … heute noch erwünscht?
Leibovici-Mühlberger: Das ist das Thema der Gemeinschaft. Gemeinschaft ist das Um und Auf für gelingende Gesellschaft. Wir erleben aber immer mehr Entgemeinschaftung und mehr Vergesellschaftung. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das wir zugunsten des sogenannten Individualismus des Einzelwesens nicht mehr wertschätzen. Das hat zur Folge, dass wir auch die Großeltern als sehr erfahrene Ressource und Unterstützung nicht genug wertschätzen. Ein respektvoller Umgang der Generationen miteinander ist gefragt. Großeltern, die anerkennen, dass die Eltern die Eltern sind, und sie als Großeltern wertvolles Erfahrungswissen weitergeben können. Und Eltern, die nicht sagen: „Wir brauchen das nicht! Mir soll ja keiner dreinreden!“
Wann würden Sie Erziehung als gelungen bezeichnen?
Leibovici-Mühlberger: Wenn die wesentliche Zielsetzung, dass die Kinder als junge Menschen und junge Erwachsene selbständig, autonom und selbsterhaltungsfähig werden, erreicht wurde.
Der 12 Stunden-Tag sorgt für heftige Diskussion in der Vereinbarkeitsfrage. Wie viele Stunden Fremdbetreuung verträgt ein Kind?
Leibovici-Mühlberger: Aus kindlicher Sicht sollte ein Kind erst wenn es von sich aus und selber Interesse an der sozialen Interaktion mit anderen Kindern zeigt, in eine Fremdbetreuung. Das ist bei manchen Kindern mit zwei Jahren, bei anderen erst mit 4 Jahren gegeben. Das will man nicht wahrhaben, das passt nicht in unser Gesellschaftsbild. Es ist politisch nicht erwünscht, was ich hier sage, aber Studien zeigen, dass sich frühe, langstreckige Fremdunterbringung auf der physischen, psychischen und sozialpädagogischen Ebene nachteilig auswirkt. Kinder, die mehr als 30 Stunden in einer Betreuung verbringen, haben einen hohen Stressspiegel und das wirkt nach.
Sie sind Mutter von vier Kindern. Wann wurden Ihre Kinder fremdbetreut?
Leibovici-Mühlberger: Meine Kinder sind praktisch in einem 3-Generationen Haushalt aufgewachsen, ich war in einer extrem privilegierten Situation. Ich habe zwar, wenn ich Dienstag ein Kind bekommen habe, am Mittwoch wieder gearbeitet, aber das war eingebettet in ein familiäres Kontinuum, wo entweder der Papa da war oder die Mama, weil ich als Selbständige meinen Arbeitsraum selber gestalten konnte. Oder es waren die Oma oder der Opa da. Und insofern gab es – individuell unterschiedlich – vor dem 3.Lebensjahr keine Fremdbetreuung außerhalb der Familie und außerhalb dieses geborgenen, eigenen Stalls.
Wie stehen Sie zu einem verpflichtenden Kindergartenjahr ab 4?
Leibovici-Mühlberger:Das ist dort ein Thema, wo die Familie schwach ist; dort wo die Familie versagt, dort wo wir polymorbide Familien haben. Wenn Eltern, die Erziehungs- und Betreuungsaufgabe für ihre Kinder nicht wahrnehmen können, bietet der frühe Kindergarten für das Kind größere Chancen. Aber nicht dort, wo ein liebevolles geborgenes Familienverhältnis im Angebot für das Kind steht.
Wie schaut der ideale Kindergarten aus? Was braucht es?
Leibovici-Mühlberger:Es heißt immer im Kindergarten soll das Kind individuell gefördert werden. In Wirklichkeit wird damit der frühe, kleine Egomane herausgebildet. Die Umgebung dient nur dir, damit du dich dann angeblich optimal entwickeln kannst. Und damit wird eine wesentliche Größe für die optimale Entwicklung des Kindes, die Fähigkeit zur konstruktiven, sozialen Interaktion gleich auf den Misthaufen geworfen. Und das wäre eigentlich die ganz große Aufgabe des Kindergartens, das Kind in die Spielregeln des sozialen, des wertschätzenden, des kooperierenden Umgangs mit seinesgleichen einzuführen. Ich lerne dort die Spielregeln einer Gemeinschaft, lerne den Wechsel zwischen im Vordergrund stehen, zurückstehen können und auch anderen einmal den Vortritt zu lassen.
Wurden die Spielregeln der Gemeinschaft früher in der Mehrkindfamilie gelernt?
Leibovici-Mühlberger:Ja, weil die Mehrkindfamilie ein größerer sozialer Organismus war. Jetzt haben sie 0,4 Bruder oder Schwester. Da können sie nicht viel lernen. Früher, draußen auf der Straße oder im Dorf, genauso – das war ein Rudel. Und da hat man das gelernt. Heute sind sie – für wenige Stunden – auf dem umzäunten Spielplatz oder in irgendeiner Förderaktivität, wo sie moderiert werden.
Es gibt Sechsjährige, die keine Schuhbänder binden, aber Smartphones bedienen können.
Leibovici-Mühlberger:Da darf ich Sie korrigieren: Es gibt Neunjährige, die keine Schuhbänder binden können und Dreijährige, die schon am Smartphone surfen. Diese Technologie hat unseren gesamten Lebens- und Alltagsraum durchdrungen. Das ist die Realität. Die Kinder müssen den Umgang damit lernen, aber diese Dinge sind auch hochpotente und hochgefährliche Elemente. Wir müssen unseren Kindern – und das ist die Verantwortung nicht nur der Eltern sondern auch der Gesellschaft – die Handhabung beibringen, damit sie sinnvolle und selbständige User und nicht hirnbefreite Konsumer werden. Wenn die Kinder parallel die praktische Lebenskompetenz verlernen, ist das eine Tragödie.
Sind Eltern noch die erste Erziehungsinstanz?
Leibovici-Mühlberger: Ja natürlich. Die Familie ist die Basis aus der ich komme. Als Familie sich auch ihres Wertes als Basis bewusst zu sein, und den zu leben mit Bewusstheit und mit Stolz und mit Bereitschaft, ist sicher ganz wesentlich.
Julia Standfest, Redaktion. Das Interview erschien ursprünglich in der "ehe und familien", der Mitgliederzeitung des Katholischen Familienverbandes.