Als Judit und ich heirateten, war uns klar, wir wollten Kinder haben. Judit liebte Kinder und auch ich als Kinderbuchautor freute mich darauf, die Bücher meinen Kindern vorzulesen. Bisher hatte ich das nur in unzähligen Schulen getan, wo ich die vielfältigen Fragen der Kinder zu meiner Behinderung beantwortet habe. Etwa, ob man im Rollstuhl sitzend den ganzen Tag zuhause vor dem Fernseher ist, oder wie ich im Rollstuhl schlafe oder die Stiegen heraufgekommen bin. Ich erklärte den Kindern, wie toll ein Rollstuhl ist und was man damit alles machen kann. Manchmal übertrieb ich so sehr, dass eines Tages ein Mädchen sagte: „Zu Weihnachten wünsche ich mir auch einen Rollstuhl!“.
Stolzer zweifacher Vater: Franz-Joseph Huainigg
Auch die Aussagen der Kinder waren immer sehr offen und direkt: „Du tust mir sehr leid, du hast eine Brille und heißt Franz!“ oder „Du tust mir leid, weil du eine Glatze hast!“ Darauf, solche Gespräche mit meinen eigenen Kindern zu führen, freute ich mich. Vielleicht, so dachte ich aber auch, kommen ganz andere Fragen, denn wenn sie mit einem behinderten Vater aufwachsen, wird vieles selbstverständlicher sein.
Unser Kinderwunsch wollte und wollte sich aber nicht erfüllen. Schließlich holten wir ärztlichen Rat ein und standen vor drei Entscheidungen: entweder ein Kind durch In-vitro-Fertilisation im Reagenzglas zu zeugen, oder Adoption bzw. Pflegekind, oder aber ganz auf Kinder zu verzichten. Wir wollten auf keinen Fall den medizinischen Weg einschlagen und ein Kind im Labor erzeugen. Da wir aber trotzdem Kinder wollten, entschieden wir uns für die Adoption, und beim zweiten Kind für Pflegschaft. Das hieß zunächst einen Kurs für werdende Adoptions- und Pflegeeltern zu besuchen, und vor allem lange warten. Für die Sozialarbeiterin schien es kein Problem zu sein, dass ich als Vater im Rollstuhl sitze. Wahrscheinlich auch, weil sie sah, wie gut ich durch die Unterstützung von persönlicher Assistenz, und vor allem auch meiner Frau, ein selbstbestimmtes Leben führe. Und da war ja auch Judit, die nicht behindert ist, durch ihre erfrischende und aktive Art wohl eine gute Mutter sein wird, und das Leben im Griff hat.
Es sollte schließlich vier Jahre dauern, bis der Anruf kam, dass wir ein gerade geborenes Mädchen adoptieren können. Vor Schreck und Freude fiel ich aus dem Rollstuhl. Und so zeigen die ersten Bilder, wo wir Katharina im Krankenhaus begegneten, mich mit Verletzungen im Gesicht.
In die Rolle des Vaters schlüpfen
Als im Krankenhaus die Schwester ein Baby namens Katharina hereinbrachte und Judit die Hand drückte, war das das größte Geschenk unseres Lebens. Judit wickelte Katharina das erste Mal und ich sah zu. Danach legte sie mir das Baby in meine Arme und ich hielt es so gut wie möglich fest. Ganz los lies Judit nicht, das war ihr zu unsicher und für mich eine wichtige Unterstützung und Sicherheit.
Drei Tage später fuhr ich am Lenkrad meines Autos sitzend Mutter und Kind nach Hause. So vorsichtig bin ich davor und danach nie mehr autogefahren. Wir zeigten Katharina unsere Wohnung und führten sie von Raum zu Raum. Wir taumelten im Glück, alle Werte verschoben sich und vor allem auch Tag und Nacht. Üblicherweise steckt ein großes Konfliktpotential in der Frage: „Wer steht in der Nacht auf, wenn das Baby weint.“ Bei uns gab es diese Konflikte nicht. Es war klar, wer aufstand. Der Vater durfte liegen bleiben, tolle Rolle...
Freilich merkte auch ich, dass ich fortan die Nummer 2 in unserer Familie war. Wenn es darum ging, dass ich auf die Toilette musste und von Judit die Urinalflasche gebraucht hätte, aber gleichzeitig Katharina nach ihrem Fläschchen schrie, war auch klar wer sein Fläschchen zuerst bekam. Alles zusammenzwicken, zurückstecken und Geduld zu haben gehört eben auch zur Vaterrolle, lernte ich.
Judit hatte aber immer stets gute Ideen wie ich meine Vaterrolle ausfüllen kann. Beispielsweise stand ich mit meinen Stützapparaten an den Wohnzimmertisch gelehnt, und konnte Katharina auf der Tischplatte aufgestützt in meinen Armen halten und das Fläschchen geben. Wobei sie bereits nach 10ml an Erschöpfung einschlief. Ich streichelte ihr immer mit dem Zeigefinger über die Wange und dann begann sie wieder zu Saugen. Danach legte Judit Katharina in eine Wiege, befestigte eine Schnur daran und ich konnte sie vom Rollstuhl aus hin und her schaukeln.
Einiges konnte ich natürlich als Vater nicht mit dem Baby machen. Beispielsweise Katharina nach dem Essen über die Schulter legen, auf den Rücken klopfen bis sie ein Bäuerchen macht, oder sie beruhigend herumtragen, wenn sie schlecht geträumt oder Schmerzen hatte. Meine Aufgabe war es damals organisatorisch manche Dinge zu managen. Zum Beispiel ein Au-pair-Mädchen zu organisieren. Ich besorgte auch so manchen nützlichen Tipp, der uns weiterhalf. Zum Beispiel riet uns ein Freund, dass wir Katharina bei Bauchweh mit einem Föhn den Bauch wärmen sollten. Das half tatsächlich.
Die eigenen Grenzen kennenlernen - aber auch die Möglichkeiten
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Katharina 3 Jahre alt war und wir einen Familienurlaub in Kroatien am Meer verbracht haben. Judit baute mit Katharina eine Sandburg mit einem Wassergraben, den sie mit Meerwasser füllte. Ich saß vier Meter entfernt im Rollstuhl und hinter meinen Sonnenbrillen versteckt liefen mir die Tränen über die Wangen. Zu gerne hätte ich mitgespielt. Als Kind hatte ich es immer geliebt im Sand zu spielen und wie schön wäre es, das mit Katharina zu machen. Bei Kleinkindern werden Eltern mit Behinderungen ihre Einschränkungen wieder stärker bewusst.
Spannenderweise verhalten sich Kleinkinder bei ihren behinderten Elternteilen auch ganz anders. Katharina kletterte vorsichtiger bei mir herum als bei Judit oder lief nicht so schnell weg. Auch später, mit 4 Jahren hätte ich ihr gerne meine Kinderbücher vorgelesen, konnte das aber aufgrund meiner Sehbehinderung nicht. Da kam eines Tages Katharina zu mir und sagte: „Ich lese dir ein Buch vor!“ Sie legte sich neben mich ins Bett, hielt das Buch über unsere Köpfe und erzählte eine tolle Geschichte, während sie die Bilder durchblätterte. Die Geschichte war so fesselnd, wie ich sie nie hätte schreiben können und ich war ganz stolz auf meine Tochter. Aber auch sie war stolz auf mich, besonders wenn wir „Mensch ärgere dich nicht“ spielten. Katharina schob die Kegel voran und würfelte auch für mich. Ich sah zwar nicht, wie viele Augen gewürfelt waren aber es waren erstaunlich viele 6er. Danke Katharina, dass ich immer fast gewonnen hätte.
Als Katharina fünf Jahre alt war, hatte ich eine große Gesundheitskrise. Ich bekam keine Luft mehr, wurde in künstlichen Tiefschlaf versetzt und schließlich an ein Beatmungsgerät angehängt. Katharina besuchte mich mit Judit immer wieder im Krankenhaus, und schenkte mir dadurch viel Lebensfreude. Ich wollte immer schnell zurück nach Hause zu meiner Familie, was aber drei Monate dauern sollte. Als es schließlich soweit war und Judit Katharina davon erzählte, freute sie sich und sagte: „Da bekommt der Papa das Röhrle aus dem Hals und ist wieder ganz mein alter Papa!“. Um so enttäuschter war sie, dass das „Röhrle“- die Atemkanüle- nach wie vor in meinem Hals steckte. Sie sprach ein paar Stunden nichts mit mir, zog sich in ihr Zimmer zurück und war traurig. Was sollte ich tun? Schließlich hatte Judit eine gute Idee. Sie fuhr mit mir in Katharinas Zimmer, legte dort eine CD mit Kinderliedern ein und wir sangen gemeinsam. Katharina war begeistert: „Jetzt kann der Papa wieder laut singen!“. Der Damm war gebrochen. Es dauerte noch einige Monate, bis meine Beatmung für Katharina zur Selbstverständlichkeit wurde. Der Rollstuhl war hingegen schon immer eine Selbstverständlichkeit, damit ist sie aufgewachsen. Als ein Kind am Spielplatz etwa fragte: „Was hat dein Papa?“, drehte sie sich zu mir hin, sah mich telefonieren und antwortete: „Ein Handy“.
Immer öfter äußerte Katharina den Wunsch nach einer Schwester. Sie war zehn, als Elias als Baby zu uns kam. Jetzt waren wir als Eltern noch mehr gefordert. Elias wuchs ganz selbstverständlich mit meinen Beatmungsgeräten und dem Rollstuhl auf. Er liebte Züge und meine Absaugkatheter verwandelten sich in ICEs, die im Bett hin- und herdüsten. Auch sehr früh wollte er alleine die Atemkanüle absaugen, was ihm mit der Unterstützung der Assistentin gut gelang.
Bei beiden Kindern bedeutete es aber immer wieder eine Schwelle, mich ihren KlassenkollegInnen als Vater zu präsentieren. Sowohl bei Katharina als auch bei Elias, gab es immer wieder Diskussionen, ob ich zu einer Schulveranstaltung oder einem Chorauftritt mitkommen darf. Ich gehe trotzdem dorthin, was bei beiden immer wieder zu Protesten führte. Auch wenn ich kritisch hinterfragte, ob ich das lieber nicht hätte machen sollen, überzeugte mich vor Kurzem eine Aussage von Elias, dass ich richtig gehandelt habe. Er sagte nämlich: „Papa, warum gehst du nicht öfters mit zum Chor? Du bist nie dabei.“. Ich erklärte ihm, dass ich nur nicht dabei bin, wenn es Stufen gibt. Er sagte mir, dass er Architekt werden wolle, damit ich überall hinkomme.
Heute ist Elias 10 Jahre alt. Vor kurzem ging ich mit ihm ins Kindertheater. Nach der Vorstellung stürmten alle Kinder aus dem Saal, zogen sich schnell an und eilten nach Hause. So schnell konnte ich mich nicht anziehen. Elias war ganz aufgeregt, meinte, dass ich mich doch beeilen solle und als es ihm trotzdem zu langsam war, beschloss er einfach alleine heim zu gehen und machte sich ohne meine Zustimmung auf den Weg. Ich wusste nicht, ob er alleine nach Hause finden würde und machte mir ernsthafte Sorgen. Hatte ich meine Vaterrolle schlecht ausgeführt? Hätte ich strenger mit ihm sein sollen? Vielleicht laut schreien? Aber das wollte ich nicht machen und konnte es auch nicht. Einfach festhalten und ihn am Weglaufen hindern, war mir aber auch nicht möglich. Für die Assistentin ist das immer eine schwierige Situation, wenn sie im Auftrag von mir die Kinder diszipliniert. Der Groll geht dann oft gegen die Assistentin und ich bin bemüht, gegenüber den Kindern zu betonen, dass sie in meinem Auftrag handeln. In diesem Fall konnte die Assistentin Elias aber auch nicht stoppen. Als ich nach Hause kam, war Elias noch nicht da. Er kam eine Viertelstunde später, da er einen anderen Weg genommen hatte. Wir führten ein ernsthaftes Gespräch. Nicht zuletzt durch mich als Vater mit Behinderung, sind die Kinder sehr selbstständig geworden. Das ist toll, hat aber auch Grenzen.
Ich habe gelernt, dass Pubertät die Phase ist, wo die Eltern auffällig werden. Und da sind wir mittendrinnen. Oft wünschte ich mir, dass ich meinen Körper mehr ins Spiel bringen kann. Damit ist natürlich nicht eine Ohrfeige oder dergleichen gemeint, sondern sich einfach vor jemanden hinstellen und nicht tief unten im Rollstuhl zu sitzen und mit leiser Stimme zu sprechen. Ich kann nur mit Wortmacht agieren und das nicht laut. Da braucht es vor allem Geduld und Nerven meinerseits. Judit stößt auch immer wieder an ihre Grenzen und meint dann zu mir: „Jetzt sei du Vater!“. Nicht einfach für mich. Aber ich arbeite daran J.