Noch einmal: Es gibt nichts zu feiern. Österreich ist eines der reichsten Länder der Welt und schafft es nicht, eines der gravierendsten sozialen Probleme der Gesellschaft anzugehen. Ein geschätztes Drittel unserer Kinder wird abgetrieben, allein die Stadt Wien verliert täglich eine Schulklasse. Und doch spricht man nicht darüber. Die Abtreibung ist eines der letzten Tabus unserer Gesellschaft, der „Elefant mitten im Zimmer“, um den sich alle herumdrücken. Sprechverbote drohen, Keulen fallen auf alle nieder, die es wagen, Frauen in dieser Krise lebensbejahend zu beraten.
Wir schaffen es nicht einmal, genaue Zahlen der abgetriebenen Kinder zu erheben, sondern sind auf Schätzungen der abtreibenden Ärzte angewiesen. In fast allen Ländern Europas kann man offenbar Frauen eine anonyme Statistik zumuten – nur in Österreich nicht. Dafür haben wir Statistiken über die Legegewohnheiten von Freilandhühnern.
Eine kleine Wartefrist
Eine einfache Maßnahme, nämlich eine vorgeschriebene zeitliche Pause zwischen Beratung und Abtreibung, würde den Frauen Zeit geben, nachzudenken – und sich in einem beträchtlichen Teil der Konfliktsituationen letztlich doch für das Kind zu entscheiden. Denn ich bin fest davon überzeugt: Keine Frau will im tiefsten Inneren ihr Kind abtreiben.
Wie oft sind es massive Beeinflussung von außen und zeitlicher Druck, die letztendlich zur ungeliebten Entscheidung führen.
Eine kleine Wartezeit könnte da den Unterschied machen. Es gibt sie nebenbei in vielen Staaten, doch bei uns nicht.
Dafür ist etwa im Schönheitschirurgie-Gesetz §6 vorgesehen: „Die Durchführung einer ästhetischen Operation sollte ohne Zeitdruck, aufgrund einer bewussten Entscheidung und erst nach reiflicher Überlegung und Reflexion durch die Patientin (den Patienten) erfolgen. Zusätzlich soll durch die Wartefrist von mindestens zwei Wochen bei ästhetischen Operationen die Möglichkeit der Einholung von weiteren Fachmeinungen gegeben sein.“
Tabuisierung erschwert Hilfe
So eine Wartefrist ist ein massiver Eingriff in die Autonomie eines Menschen. Und doch wird sie bei einem so oberflächlichen Thema vorgeschrieben und akzeptiert. Warum nicht in dem viel existenzielleren Fall, in dem ein Leben auf dem Spiel steht? Sollten da solche Parameter nicht selbstverständlich sein? Ohne Zeitdruck? Aufgrund einer bewussten Entscheidung? Nach reiflicher Überlegung und Reflexion?
Es wird Zeit, über den eigenen Schatten zu springen. Man wird uns einmal fragen, wie es möglich war, dass 40 Jahre lang Jahr für Jahr nicht ehrlich darüber geredet wurde, wie man Frauen in unserer Mitte helfen kann. Und es ist vor allem die Sprachlosigkeit, die Tabuisierung des Themas Abtreibung, die eine echte Hilfe schwer möglich macht.
Die Kirche kann den Gesetzgeber nicht zwingen, sich für den Respekt vor der Menschenwürde aller einzusetzen, aber sie darf nicht aufgeben. Wie das auch die Caritas nicht tut.
Wir Christen wollen die Fragen stellen, die niemand stellt. Wir wollen Sprachlosigkeit durchbrechen. Und wir wollen wissen, wie die Gesellschaft mit ihren schwächsten Gliedern umgeht. Auch und besonders am 40.Jahrestag der Fristenregelung. Die keine Lösung ist.
DDr. Klaus Küng (*1940 in Bregenz) ist seit 2004 Bischof der Diözese St. Pölten.
Gastkommentar in "DiePRESSE" am 29.11.2013