Kinderbetreuung im Zeichen der "flüchtigen Moderne"
– wobei man sich durchaus fragen kann, ob das in der Praxis nicht eher auf „Unterordnung der Familie unter den Beruf“ hinausläuft.
Die 1980 verstorbene katholische Sozialaktivistin Dorothy Day, deren Seligsprechungsprozess im Jahr 2000 eröffnet wurde, schrieb in ihrer Autobiographie „The Long Loneliness“: „Eine große Frage beschäftigte mich zuinnerst. Warum wurde so viel unternommen, um soziale Missstände zu verbessern, statt dass man sie von allem Anfang an vermied? Es gab wohl Kindergärten – warum aber erhielten die Väter nicht genügend Lohn für den Unterhalt ihrer Familien, so dass die Mütter nicht auf Arbeit fortzugehen brauchten?“
Diese Perspektive mag uns heute fremd erscheinen. Wir sind es gewohnt, es nicht als ein Kennzeichen von Armut, sondern als gesellschaftliche Normalität zu betrachten, wenn beide Eheleute ihren Teil zum Familieneinkommen beitragen; und folgerichtig gelten Betreuungseinrichtungen wie Kindergärten, Kinderkrippen und Kindertagesstätten nicht als Notlösung, sondern als soziale Errungenschaft.
Die außerfamiliäre Betreuung nicht nur von Kindern im Vorschulalter, sondern auch von Kleinkindern und zunehmend sogar von Säuglingen zu fördern und auszubauen, gilt über die Parteigrenzen hinweg als zentrale familienpolitische Aufgabe; „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ lautet hier das Schlagwort – wobei man sich durchaus fragen kann, ob das in der Praxis nicht eher auf „Unterordnung der Familie unter den Beruf“ hinausläuft.
Damit soll nicht bestritten werden, dass es vielen Frauen auch unabhängig von finanziellen Notwendigkeiten wichtig ist, Kinder zu haben und gleichzeitig im Berufsleben erfolgreich zu sein. Aber was ist mit den Müttern, die das gar nicht wollen? Denen der tagtägliche enge Kontakt zu ihren Kindern und die persönliche Fürsorge für sie, wenigstens in den ersten Lebensjahren, wichtiger ist als berufliche Selbstverwirklichung? Diesen Frauen hat die staatliche Familienpolitik wenig anzubieten, und vielfach werden sie obendrein noch schief angeschaut, wenn nicht geradezu als „unemanzipiert“ und „rückschrittlich“ verschrien.
Dennoch haben die Medien in jüngster Zeit einen neuen Trend ausfindig gemacht, über den sie teils neugierig, teils skeptisch und zuweilen geradezu skandalisierend berichten: den Trend zur „Selbstbetreuung“, auch genannt „Kitafrei-Bewegung“. Dabei handelt es sich, schlicht gesagt, um Eltern – insbesondere Mütter –, die es als ihre vorrangigste Aufgabe betrachten, sich persönlich um ihre Kinder zu kümmern, statt sie in Fremdbetreuung zu geben, und die dafür auch bereit sind, zeitweilig oder dauerhaft aus dem Berufsleben auszusteigen.
Dass dies in der Öffentlichkeit als ein bemerkenswertes und tendenziell verdächtiges Phänomen wahrgenommen und dargestellt wird – anstatt etwa zu erwägen, dass das Bedürfnis, für die eigenen Kinder da zu sein, schlichtweg natürlich sein könnte –, wirft ein bezeichnendes Licht darauf, wie normativ die Kita-Betreuung geworden ist.
Und das innerhalb von nur fünf Jahren nach der bundesweiten Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz.
Gegenüber dieser gesellschaftlichen Normalität stellen Eltern, die auf ein ihnen zustehendes, staatlich gefördertes Betreuungsangebot verzichten und dafür zum Teil sogar erhebliche finanzielle Einschränkungen in Kauf nehmen, eine Provokation dar – nicht zuletzt auch für andere Eltern. Eltern, die sich für eine frühe Kitabetreuung entschieden haben oder möglicherweise auch gar keine andere Wahl gehabt haben, möchten natürlicherweise gern glauben, dies sei das beste für ihr Kind; und es fehlt auch nicht an Stimmen, die ihnen dies bestätigen: In der Kita erlerne das Kind soziale Interaktion, auch für die altersgerechte Entwicklung der kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten könne der frühe Kontakt zu Gleichaltrigen förderlich sein. Wenn das stimmte, dann läge es tatsächlich nahe, sich zu fragen: Was müssen das für Eltern sein, die ihren Kindern diese Vorteile willkürlich vorenthalten?
Zumindest soweit es Kinder im Alter von bis zu drei Jahren betrifft, sind diese Argumente für die Kitabetreuung allerdings wenig überzeugend. Es ist intuitiv einleuchtend, wird aber auch durch zahllose Studien belegt, dass der mit weitem Abstand wichtigste soziale Kontakt eines Kindes in den ersten Lebensjahren derjenige zu den eigenen Eltern, insbesondere zur Mutter, ist. Die Nähe zu den Eltern ist von zentraler Bedeutung für die Entwicklung und die psychisch-emotionale Gesundheit eines Kindes. Auch in Geburtshilfekliniken wird dies zunehmend berücksichtigt; so haben die Weltgesundheitsorganisation WHO und das Kinderhilfswerk UNICEF eine Richtlinie für „babyfreundliche“ Geburtskliniken erarbeitet, die darauf abzielt, die Entwicklung einer intensiven Mutter-Kind-Bindung vom Moment der Geburt an zu unterstützen. Vor diesem Hintergrund erscheint es hochgradig unplausibel, von Eltern zu erwarten, ihre Kinder womöglich schon im ersten, spätestens aber im zweiten Lebensjahr in Fremdbetreuung zu geben.
Zur These, die Krippenerziehung fördere die soziale Interaktionsfähigkeit der Kinder, ist außerdem anzumerken, dass Kinder in der Regel erst mit etwa drei oder vier Jahren anfangen, sich in ihrem Verhalten an Gleichaltrigen zu orientieren; und auch dafür braucht es nicht zwingend einen Kindergarten. Wenn Eltern ihre Kinder „kitafrei“ erziehen, dann heißt das ja nicht, dass sie sie völlig von der Außenwelt abschirmen. Im Gegenteil: Viele „Kitafrei“-Eltern suchen, beispielsweise mit Hilfe sozialer Netzwerke im Internet, gezielt den Kontakt zu gleichgesinnten Eltern, um sich gegenseitig bei der Kinderbetreuung zu unterstützen, und organisieren beispielsweise Spielgruppen, in denen es zum Teil durchaus ähnlich zugeht wie in einem Kindergarten – nur eben unter der Aufsicht von Eltern und nicht unter der des Staates.
Aber auch daraus lässt sich wiederum ein Argument konstruieren, um die „Kitafrei-Bewegung“ in ein schlechtes Licht zu rücken: Misstrauen diese Eltern etwa staatlichen Institutionen? Dann kann es sich bei diesen Eltern ja nur um obskure Sektierer handeln! Als ein „Sammelbecken für Alternative, Esoteriker, Impfgegner, konservative Christen“ wurde die Bewegung jüngst etwa in der Berliner Zeitung beschrieben, mit dem offenkundigen Subtext: Denen darf man die Erziehung ihrer Kinder erst recht nicht allein überlassen. Kurz gesagt, ein Argument, das zuweilen auch zur Rechtfertigung der Schulpflicht in Deutschland herangezogen wird, wird hier auf noch nicht schulpflichtige Kinder übertragen: Staatliche Kindererziehung soll sicherstellen, dass Eltern ihre Kinder nicht ungestört mit einer möglicherweise gesellschaftlich nicht konformen Weltanschauung indoktrinieren können.
Der jetzige Vizekanzler Olaf Scholz sprach 2002, damals als SPD-Generalsekretär, in diesem Zusammenhang von einer „Lufthoheit über den Kinderbetten“. Solche Formulierungen sollten aufhorchen lassen: Normalerweise ist ein solcher Ansatz eher für totalitäre Systeme kennzeichnend.
An der Einschätzung der Berliner Zeitung, zu den Gruppen, für die die „Kitafrei“-Bewegung besonders interessant sei, zählten unter anderem „konservative Christen“, könnte indes durchaus etwas Wahres sein – und dies gar nicht unbedingt nur deshalb, weil christliche Eltern möglicherweise mit den pädagogischen Richtlinien von Kitas nicht einverstanden sind und eine Beeinflussung ihrer Kinder in einem ihren eigenen Erziehungsgrundsätzen widersprechenden Sinne befürchten, sondern auch ganz allgemein wegen der hohen Wertschätzung des Christentums für die Familie. Im Katechismus der Katholischen Kirche heißt es etwa, die Familie sei „die Urzelle des gesellschaftlichen Lebens“; diese Gemeinschaft gehe „jeder Anerkennung durch die öffentliche Autorität voraus“ und sei „ihr vorgegeben“; die Eltern seien „die Erstverantwortlichen für die Erziehung ihrer Kinder“. Sinngemäß Ähnliches liest man wohlgemerkt auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland: „Pflege und Erziehung der Kinder“, heißt es da, seien „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“.
Man braucht durchaus kein Verschwörungstheoretiker zu sein, um den Eindruck zu haben, dass dieses natürliche Recht der Eltern durch den Ausbau und die Förderung der Krippenbetreuung faktisch unterlaufen wird – mit Unterstützung der Medien, die nur allzu gern Klischeevorstellungen von überfürsorglichen „Helikopter-Eltern“ einerseits und bildungsfernen, überforderten „Hartz-IV-Eltern“ andererseits bedienen. Die nicht sonderlich subtile Botschaft solcher Darstellungen lautet, Kindererziehung oder -betreuung sei eine Aufgabe, die man nicht den Eltern überlassen dürfe.
Die bemerkenswert technokratische Auffassung, Kinderbetreuung durch qualifiziertes Fachpersonal sei derjenigen durch die eigenen Eltern vorzuziehen, verkennt oder ignoriert allerdings den Umstand, dass in vielen Betreuungseinrichtungen keineswegs rosige Zustände herrschen. Hört man sich in der „Kitafrei“-Szene ein wenig um, kann man schnell feststellen, dass viele der betreffenden Eltern ursprünglich durchaus nicht aus „ideologischen“ Gründen zu „Selbstbetreuern“ geworden sind, sondern schlichtweg deshalb, weil sie keine Kita gefunden haben, die ihnen vertrauenswürdig erschien oder in der die Kinder sich wohlfühlten.
Sicherlich gibt es viele Kita-Erzieherinnen und -Erzieher, die in ihrer Arbeit ihr Bestes geben und die ihren Beruf aus echter Liebe zu Kindern gewählt haben. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Beziehung zwischen Erziehern und Kindern im Grundsatz eine funktionale und damit austauschbare ist. Und möglicherweise ist sogar genau das der tiefere, wenn auch uneingestandene Sinn des Ausbaus der Krippenbetreuung: Die Kinder sollen früh daran gewöhnt werden, zwischenmenschliche Kontakte als funktional und austauschbar zu erleben – um so auf das Leben in der „flüchtigen Moderne“, wie der Philosoph Zygmunt Bauman sie nennt, vorbereitet zu werden. „Der Dreh- und Angelpunkt postmoderner Lebensstrategien ist nicht der Aufbau von Identität, sondern die Vermeidung von Festlegungen“, schrieb Bauman 1996. Seiner Einschätzung zufolge ist es, um in der heutigen Welt Erfolg zu haben, notwendig, frei von allen persönlichen Bindungen zu sein.
In diesem Sinne ist die „Kitafrei“-Bewegung, die im Gegenteil gerade auf die Stärkung persönlicher Bindungen setzt, ein Zeichen des Widerspruchs gegen die „flüchtige Moderne“. Eine Gesellschaft, die ihre Menschlichkeit bewahren will, sollte für eine solche Bewegung eigentlich dankbar sein.
Dr. phil. Tobias Klein
Publizist und Blogger