Das Glockenwunder
„Hey, Jonas – hast DU aber gute Ohren!“
Wir lauschen ein paar Sekunden.
„Hey, Jonas – was machen die Glocken heute? LÄUTEN sie oder SCHLAGEN sie?“
Es ist ja ein Unterschied, ob die Kirchenglocken LÄUTEN oder eine der Glocken von der Automatik der Kirchturmuhr ANGESCHLAGEN wird. Haben wir letzte Woche beim Spazierengehen gelernt.
„Sie läuten! ... Opa, warum läuten die Glocken heute?“
Nun, bei uns läuten die Glocken um 6:00 Uhr morgens und um 19:00 abends. Dann das sogenannte „Viertelläuten“ fünfzehn Minuten vor den Gottesdiensten und das „Zusammenläuten“ unmittelbar vor dem Gottesdienst. Doch jetzt, am Donnerstag 10:30?
„Heute läuten Sie wohl, weil ein Begräbnis ist.“
Kurze Stille.
„Was ist das ein ... Geräbnis?“
„Begräbnis Jonas. Be-gräb-nis“.
„Ge-räb-nis“.
„Be-gräb-nis. Ein Begräbnis ist, wenn jemand gestorben ist. Dann kommen die Familie und die Freunde in der Kirche zusammen.“
„Was tun sie da in der Kirche?“
Jetzt bewegen wir uns auf dünnem Eis. Das Thema will sachte angesprochen werden.
„Sie feiern in der Kirche ein Abschiedsfest. Sie sind zwar traurig, weil der Mensch, den sie liebgehabt haben, tot ist. Aber sie sind dankbar für die vielen schönen Zeiten, die sie miteinander hatten.“
Längere Zeit kein Kommentar von Jonas.
„Ich bin dankbar für DU Zeit hast, Opa“.
Umwerfend. Dieses wundervolle kindliche Bekenntnis kann durch nichts aufgewogen werden.
„Ich bin dankbar, dass ich DICH habe, Jonas!“
Beim Glockenläuten oder -schlagen haben wir aber eines Nachmittags noch eine wichtige Entdeckung gemacht:
„Hey, Jonas – was machen die Glocken heute?
LÄUTEN sie oder SCHLAGEN sie?“
„SCHLAGEN ...“
„Hörst du, jetzt schlagen sie anders. Zuerst haben sie viermal geschlagen: pling-pling-pling-pling ... Viermal: eins-zwei-drei-vier ... pling-pling-pling-pling. Das heißt: ACHTUNG, jetzt ist der Zeiger der Kirchturmuhr genau oben in der Mitte – Schau, genau oben in der Mitte. Und nach den vier Pling-Pling-Pling-Pling haben sie anders geschlagen: plong-plong-plong ... Das Plong-Plong-Plong ... muss man dann zählen, dann weiß man, wie spät es ist.“
Das hat er jetzt sicher nicht verstanden – zu schwierig für einen Dreieinhalbjährigen. Bis Zehn zählen kann er schon ganz gut, aber den Zusammenhang mit der Glocke und der Uhrzeit herstellen, das schafft er wohl nicht.
Nächsten Donnerstag sind wir wieder unterwegs. Die Kirchturmuhr beginnt zu schlagen. Jonas hebt den Kopf. Noch ein Zucken um seine Mundwinkel als der Schlag von pling-pling-pling-pling auf plong-plong-plong... wechselt.
„Sieben!“
Mit bleibt die Spucke weg. Wahnsinn. Na gut, es ist NEUN Uhr. Aber so genau muss man das nicht nehmen. Aber: Nur EINE EINZIGE Erklärung vor einer GANZEN Woche! Und die war grenzwertig anspruchsvoll. Und er hat es verstanden. Und soeben angewendet. Ich bin hin und weg über dieses Wunderwerk der Schöpfung.
„Jonsi, du bist … ein Wunder!“