Unterwegs im Wald
Jonas, Gabriel und Lenie sind solche Gedanken noch fern. Mir aber nicht. Die letzten fünfundzwanzig, dreißig Jahre habe ich überwiegend in Büros, Besprechungszimmern und vor Bildschirmen verbracht. Ich will mich nicht beklagen – Es hört sich zwar nicht so cool an, war es aber. Ich habe meinen Beruf immer mit großer Leidenschaft ausgeübt – und das ist noch immer so. Es waren Jahre dabei, da sind meine Frau und ich EINMAL im Jahr (!) zum Wandern gekommen. Mit meinen Enkelkindern ist für mich jetzt „Zurück zur Natur“ oder
„Wie herrlich ist’s im Wald“
Wir lieben den Wald und sagen das auch immer wieder.
„Ich liebe den Wald, Jonas ...“
„Ich auch, Opa“.
„Bleib mal stehen und mach die Augen zu ...“ Er bleibt stehen und schließt die Augen.
„Riech einmal den Wald. Es riecht ein bisschen nach Wasser. Und nach Erde. Und nach Baumrinde – riechst du’s?“
„Und süß ...“ Tatsächlich, ein süßer Duft, vielleicht eine blühende Akazie ...
„Ja, genau, Jonas – jetzt rieche ich es auch ... süß. Und was hörst du alles?“
„Autos ...“ Hmm ... Das wollte ich eigentlich nicht hören, aber er hat Recht. In zweihundert Meter Entfernung geht der Durchzugsverkehr vorbei.
„Ja, genau, Jonas. Aber wenn du die Geräusche vom Wald hören willst, musst du an den Autos VORBEI horchen – schaffst du das?“
„Kann ich die Augen wieder aufmachen?“
„OK – Augen auf. Und? Kannst du Waldgeräusche hören?“
„Vögel ...“
„Richtig, Jonas, ich höre sie auch. Noch was?“
„Blätter ...“
„Ja, genau – Blätter! Das nennt man »Die Blätter rauschen«. Rau-schen ... Hörst du noch was?"
„Nein ...“ Stille – dann hören wir es: „t-r-r-r-r-r-r-r-r-r-r-r-r“ und wieder „t-r-r-r-r-r-r-r-r-r-r-r-r“.
„Opaaa – ich höre ... ein ... einen ... Specht!“. Super – Jonas hat sich den Specht gemerkt!
„Hey – gut aufgepasst. Ein Specht - Klasse! Kannst du auch so machen wie ein Specht?“
„t-chchchchchch“. Die vielen „r“, die wir beim letzten Mal schon vergeblich trainiert haben, haben es wieder nur zu einem „ch“ geschafft. Jaja, die Gutturale[1] und auch ein guttural ausgesprochenes „r“ sind für die Kinder eine Herausforderung. Für mich auch. Versuch du einmal „t-r-r-r-r-r-r-r-r-r-r-r-r“ wie ein Specht. Schwierig, oder? Man könnte es auch mit Zungen-R aussprechen. Das bringt Jonas aber auch nicht zusammen und es klingt außerdem nicht wie ein Specht. Was lernen wir daraus:
Jeder Spaziergang ist AUCH Sprechunterricht mit Spaßfaktor!
Wir gehen ein Weilchen schweigend weiter. Dürre Zweige knacksen unter unseren Schritten, die Vögel zwitschern und der Specht klopft. Wie herrlich ist es im Wald ... plötzlich – in unmittelbarer Nähe:
„gau-gauk ...“
„Opa!!! – der Gaugauk! Ich hab den Gaugauk gehört!“ Seit Wochen versuchen wir ihn einmal zu sehen, doch er lässt sich immer nur hören – und das sehr selten. Ich weiß noch nicht einmal, was das für ein Vogel sein soll. Vielleicht ist heute unser großer Tag.
„gau-gauk!“. Der muss gleich neben uns im Unterholz sein.
„Opa, schon wieder!“. Ich lege meinen Zeigefinger auf die Lippen
„Pscht, Jonas! Ganz leise! Vielleicht sehen wir ihn heute ...“ ich flüstere so leise, dass Jonas sofort kapiert, dass Vorsicht angebracht ist. Langsam pirschen wir uns an. Ein vorsichtiger Schritt nach dem anderen. Plötzlich ein lauter Knacks eines kleinen Zweiges unter meinem Fuß. Ich bleibe stehen und wir beide sehen uns an. Die Augen weit aufgerissen, die Hand vor dem Mund. Natürlich können wir uns da ein Grinsen kaum verkneifen. Weiter geht’s. Ein Schritt ... und noch einer ... und noch einer ...
„gau-gauk, gau-gauk!“ tönt es direkt vor uns. Und mit lautem Flattern fliegen zwei Fasane auf und davon.
„Boah – Jonas!“
„Boah!“
„Jetzt haben wir sie endlich gesehen – wir haben es geschafft!
„Geschafft!“
„Fasane, Jonas. Das waren Fasane. Fa-sa-ne.“
„Fa-sa-ne ... ich mag »gau-gauk« lieber.“
Wir schauen uns kumpelhaft an.
„Ich liebe den Wald, Jonas ...“
„Ich auch, Opa“.
[1] Gaumenlaute: „g“, „k“, und verwandte wie „ch“ und „r“