Zwei Geschichten aus dieser Broschüre:
Die eigene Farbe finden
Vor langer, langer, sehr, sehr langer Zeit, da hatten die Dinge gerade ihre Farben bekommen: Die Erde war braun, das Gras war grün, der Himmel blau und die Rose rot. Nur einer, ein einziger, hatte keine Farbe abbekommen und war deshalb sehr betrübt. Dieser eine war der Schnee.
Als er lange genug traurig gewesen war, wandte er sich nach unten und sprach: „Grüß dich, liebe Erde. Weißt du, deine Farbe gefällt mir. Aber schau mich nur an. Ich bin ganz farblos. Während ihr anderen alle so schön geworden seid, bin ich leer ausgegangen. Gibst du mir etwas von deiner Farbe ab?“
Aber die Erde schlief und hörte ihn nicht.
Da rief der Schnee zum Himmel hinauf: „Guten Morgen, du Schöner! Du bist so reich und leuchtest wie ein Traum. Magst du mir etwas Farbe schenken? Ich werde dafür immer lieb an dich denken.“
Er lauschte seinen Worten hinterher, erhielt aber keine Antwort, denn der Himmel war zu weit weg und hatte ihn nicht gehört.
„Hallo!“, sagte der Schnee nun zum Gras. „Bitte gib mir etwas von deiner Farbe ab! Ich finde sie wunderschön.“
Aber das Gras war geizig. „Wenn ich von meinem herrlichen Grün etwas hergebe, habe ich vielleicht für mich selbst nicht genug“, dachte es und ließ ein schnippisches „Nein!“ hören.
„Rose“, säuselte der Schnee, „deine Farbe ist kräftig und schön. Du bist reich und edel. Schenke mir doch bitte etwas von deinem ganz besonderen Farbton.“ Hätte die Rose diesen Wunsch erfüllt, dann sähen unsere Winter ganz anders aus als wir es gewohnt sind. Aber die Rose war hochmütig. Sie antwortete nicht, denn mit so einem farblosen Gesellen wollte sie nicht einmal ein Gespräch führen.
Der Schnee wurde noch trauriger als zuvor. Er weinte sogar. Aber dann machte er sich abermals auf den Weg. Er ging noch weiter in die Welt hinaus und schaute sich unter den Wesen um.
Eines Tages sah er an einer Weggabelung eine kleine, unscheinbare Blume. Sie hielt den Kopf leicht geneigt, so als wäre sie in Gedanken versunken, als sänge sie leise für sich ein Lied oder als dächte sie sich ein Gedicht aus.
„Guten Tag“, begrüßte der Schnee die Blume.
Die Blume blickte auf. „Danke und auch dir einen guten Tag!“, antwortete sie.
„Würdest du mir bitte etwas von deiner Farbe abgeben?“, fragte der Schnee, halb zögernd, halb hoffnungsvoll.
Und was sagte diese kleine Blume?
„Ja“, antwortete sie mit heller, klarer Stimme. „Nimm dir, so viel du magst. Es ist sicher genug für uns beide da.“
Seitdem hat der Schnee seine weiße Farbe.
Seitdem tut er dieser einen Blume nichts zu Leide. Und seitdem heißt diese Blume: Schneeglöckchen.
Margarete Wenzel aus: Es war 1001 Mal, Tyrolia-Verlag . Innsbruck-Wien