Serafina, das Wunderkind, oder Kabuddel-Kabimm
Serafina ist ein Wunderkind.
Ja, wirklich! Ständig muss man sich über dieses Kind wundern! Aber nicht etwa deshalb, weil sie Dinge kann, die andere Kinder in ihrem Alter nicht können. Nein, so ein Wunderkind ist Serafina nicht. Sie könnte dir nicht sagen, wie viel vierundsiebzig mal hundertdrei weniger sieben mal zwei ist. Serafina wüsste auch nicht, wie man ein so verflixt schwieriges Wort wie „Äquator“ schreibt, ohne dass sich dabei womöglich ein falscher Buchstabe mit hinein verirrt. Und obwohl Serafina Musik über alles liebt, könnte sie dir auch nicht verraten, wie man eine Oper komponiert. Nein, auch solch ein Wunderkind ist Serafina ganz sicher nicht! Und trotzdem vergeht kaum ein Tag, an dem sich ihre Eltern nicht über sie wundern!
Zum Beispiel gestern: Da behauptete Serafina ernsthaft unsichtbar zu sein! Das war schon allerhand! Weil Papa doch genau sehen konnte, dass Serafina am Tisch saß und sich gerade Marmelade auf das Butterbrot löffelte. Aber Serafina hatte dafür gleich eine Erklärung: „Du kannst mich deshalb sehen, weil du einer von der seltenen Sorte bist, die Unsichtbare sehen können, Papa. Ja, solche Leute gibt es wirklich!“
Darauf blieb Papa gar nichts anderes übrig, als sich wieder einmal über Serafina zu wundern. Und später wunderten sich Papa und Mama, weil Serafina ihnen ohne Aufforderung half, den Geschirrspüler auszuräumen.
„Kabuddel-Kabimm!“, sagt Serafina in ihrer Geheimsprache oft, was so viel heißt wie: „So ist das eben!“ „So ist das eben“ kann man sagen, wenn man fröhlich ist. „So ist das eben“ kann man aber auch sagen, wenn man einmal traurig ist. Kabuddel-Kabimm eben. Manchmal ist man sogar beides zugleich. Traurig und fröhlich zur selben Zeit. Bei Serafina war das so: Es war im Herbst. Nur noch wenige Blätter hingen an den Ästen des Kastanienbaums. Am Himmel kreisten Raben und krächzten einander heisere Grüße zu. Serafina stapfte inmitten eines großen Laubhaufens und ließ Blätter um sich wirbeln. „Hej!“ und „Ho!“, rief sie dabei und stellte sich vor, an Deck eines Piratenschiffs zu stehen, das auf wilden Meereswogen schaukelt.
Als Kapitän musst du durch Wind und Wetter. Auch ein wilder Sturm darf dich dann nicht schrecken. Serafina hätte der ganzen Welt gerne gezeigt, wie mutig sie sein konnte. Aber da war niemand. An diesem Tag spielte sie mit sich allein. „Hej!“ und Ho!“, rief sie wieder. Doch diesmal klang ihre Stimme fast wie die eines kleinen Mädchens. Noch einmal: „Hej!“ und „Ho!“ Oje, diesmal war die Luft ganz heraus. Sie hatte ihren Kapitänsruf nur noch vor sich hin murmeln können. Und wie traurig hatte sich ihre Stimme dabei zuletzt angehört. Furchtbar traurig sogar, fand Serafina und spürte, wie ihr ein kalter Windhauch über den Nacken fuhr. Eine ganze Weile stand sie einfach nur so da und wunderte sich, weshalb ihr so plötzlich die Lust am Spielen abhanden gekommen war. Weit oben am Himmel krächzten noch immer die Raben, doch nun hörte es sich an, als würden die schwarzen Vögel einander zurufen: „Oje, oje, oje!“ Da musste Serafina plötzlich weinen. Und wie ihr so die heißen Tränen über die Wangen liefen, begann sie sich selbst furchtbar leid zu tun. Denn außer ihr selbst war ja sonst keiner zugegen, der Mitleid mit ihr gehabt hätte und sie hätte trösten können.
„Du armes Kind!“, sagte Serafina laut zu sich selbst und fuhr sich mit dem Ärmel über das nasse Gesicht. „Du armes, armes Kind!“ Und obwohl sie es zu sich selbst sagte, tat es gut diese Worte zu hören. Also sagte sie es wieder: „Du armes Kind!“ Dabei fiel ihr ein, dass sie die Stimme ihrer Mama nachahmen könnte. „Du armes Kind!“ – das klang besonders nett. Und gleich darauf versuchte sie sich mit der dunklen Stimme ihres Papas zu trösten: „Du armes Kind! Gleich ist alles wieder gut!“ Aber Papas Stimme war schwer nachzumachen. So wie ihr die Worte über die Lippen kamen, hörte es sich an, als ob ein Bär im Schlaf brummen würde: „Du armes, armes Kind, du! Gleich ist alles wieder gut!“
Da kam Serafina sogar kurz ein Lachen aus. Obwohl sie doch eigentlich lieber noch ein wenig geweint hätte! Denn irgendwie fand sie es schön, so unendlich traurig sein zu können. Dann lief sie nach Hause. Ein fremder Mann wunderte sich, als Serafina fröhlich auf dem Gehsteig an ihm vorbeihopste und dabei immer wieder vor sich hin rief: „Kabuddel-Kabimm!“ So ist das eben. Serafina ist ein Wunderkind.
Hubert Flattinger aus: Tiroler Vorlesebuch, HAYMON Verlag
Warum Gott die Zwetschgen, die Äpfel und die Birnen schuf
Im Anbeginn der Zeit schuf Gott die Welt – und sie war ein Paradies. Dann aber verstießen Adam und Eva gegen das göttliche Verbot. Sie aßen die verbotene Frucht der Erkenntnis, den Apfel. Da wurde Gott fuchsteufelswild und ließ die zwei durch einen Engel aus dem Paradies vertreiben. Die Welt außerhalb des Paradieses war aber eine unwirtliche Einöde. Deshalb sorgten die Engel fortan für die Menschen, damit sie in dieser kargen neuen Welt zurechtkamen. Das Leben war trotzdem schwierig genug. Die Menschen fanden kaum genug zu essen. Oft litten sie Hunger und Not.
So flogen die Engel immer und immer wieder hinauf zum göttlichen Thron und berichteten, wie entbehrungsreich und mühsam das Leben der Menschen jetzt war. Gottes Wut war längst verraucht. Ja, die göttliche Milde kehrte zurück. Mit der Zeit taten dem Schöpfer diese armen Wesen leid. Gott beschloss deshalb, ihr Los zu mildern, und schuf einen Zwetschgenbaum. Im Paradies hatte es davon viele gegeben, aber außerhalb, in der Einöde, war das der erste.
Neugierig kosteten die Menschen von seinen Früchten. Die schmeckten viel besser als alles andere. Bald entbrannte ein Streit um die köstlichen Zwetschgen. Und es blieb nicht bei Worten. Schließlich wurden die Menschen handgreiflich und gingen mit Gewalt aufeinander los.
Wieder flogen die Engel zum Himmel und berichteten vom Streit um die göttlichen Früchte.
„Ein Baum ist wohl zu wenig“, sagte sich Gott – und schuf auch einen Apfelbaum. Die Menschen waren begeistert. Endlich konnten sie ohne schlechtes Gewissen von den göttlichen Äpfeln essen. Und wieder kam es nach der ersten Freude zu heftigen Streitereien um die köstlichen Früchte.
Einmal mehr waren die Engel gefragt. Sie berichteten Gott, dass es beim Kampf um die Äpfel Verletzte und sogar Tote gegeben hatte. Es war alles nur schlimmer geworden.
Also schuf Gott auch noch den Birnbaum. Und gleich ging der Streit um die Birnen los. Die Engel wussten bald nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand. Sie flogen von der Erde zum Himmel und überbrachten eine unheilvolle Botschaft nach der anderen.
„Wenn reichlich da ist, dann hat der Streit wohl ein Ende“, sagte sich Gott. Deshalb schuf Gott auch noch die Nüsse und die Mandeln, die Quitten und die Marillen, die Kastanien und die Schlehen, die Zitronen und die Orangen.
Der Zwist und die Auseinandersetzungen nahmen aber trotz dieser Fülle kein Ende.
Schließlich verstand Gott, dass es nicht die Not war, die die Menschen antrieb, sondern die Gier.
Es half also nichts, den Menschen noch mehr vom himmlischen Segen zukommen zu lassen. Der Keim des Übels lag in den Herzen der Menschen.
So gab Gott den Engeln eine Botschaft mit: „Genug ist genug. Kein Mensch soll mehr haben, als er braucht, um wirklich satt zu werden. Alle, die das verstehen und danach handeln, werden zufrieden sein und wieder im Paradies leben auf Erden.“
Viele Menschen waren allerdings derart mit sich und ihrem Besitz beschäftigt, dass sie gar nicht hinhörten. Einige allerdings hörten nicht nur hin, sondern verstanden auch, was Gott damit sagen wollte. Und die haben seither das Glück auf ihrer Seite.
Helmut und Ursula Wittmann aus: Das Geschenk der zwölf Monate, illustriert von Agnes Ofner, Tyrolia-Verlag . Innsbruck-Wien