Das Wintergoldhähnchen
Selten sieht ein Mensch die Wesen des Himmels, denn wir schauen ja eher auf den Boden, auf dem wir gehen, als in die Bäume über uns. Der kleinste Vogel, der hierzulande lebt, ist von unten auch recht unscheinbar, nur oben auf dem Kopf trägt er die schönsten schwarzen, roten und goldenen Streifen. Wenn die Königin einen Brief schreibt – und sei es nur ein Blatt –, dann kann es sein, dass dieser schon schwerer wiegt als ein ausgewachsenes Wintergoldhähnchen.
Einst wuchs auf der Wiese eine riesige Linde. Ihr Stamm war stark und teilte sich in fünf dicke Äste, ihre Blätter leuchteten in sanftem Grün. In diesem Baum hielt sich oft ein Goldhähnchen auf und fand eine ganze Welt im Gewirr der zahlreichen Zweige und im Schutz der Blätter.
An einem Sommertag kam unvermittelt ein heftiger Sturm übers Land. Der kleine Gefiederte im Laub
konnte nicht mehr in den nahen Wald flüchten, wo die launigen Böen weniger zu spüren sind. So blieb er nahe am Stamm sitzen und hielt sich mit seinen kleinen Krallen, so fest er konnte.
Der Wind nahm stetig zu und brauste über die Wiese, als wolle er alles mitnehmen, was sich nicht im Boden verkrochen hatte.
Sein warmer Atem blies einmal von hier nach dort, dann wieder von dort nach hier und mit einer solchen Kraft, dass selbst die große Linde davon gebeutelt wurde. Fast zwei Tage und Nächte vergingen, ehe der Sturm sich wieder beruhigte und es endlich sanft zu regnen begann.
Alles atmete auf, auch der Baum und der erschöpfte Vogel in seinen Zweigen.
Da sagte das Wintergoldhähnchen stolz zu seiner Linde: »Fast wärst du fortgeblasen worden. Ist es nicht gut, dass ich dich die ganze Zeit so festgehalten habe?«
erzählt von Frau Wolle, www.frauwolle.at
Das Lied von dem, was wirklich ist
Vor Zeiten lebte einmal ein König. Der hatte drei Söhne. Und so unterschiedlich die drei auch waren, er hatte einen jeden von ihnen von Herzen gern. Die Jahre vergingen. Aus den drei Söhnen wurden drei junge Männer. Der König spürte, dass es langsam Zeit war, das Reich in junge Hände zu geben.
Jetzt war die Entscheidung schwer. Welchem von den drei Söhnen sollte er die Krone und damit die Herrschaft anvertrauen?
Der König überlegte hin und her. Weder die Königin noch seine Ratgeber konnten ihm dabei weiterhelfen. Vor lauter Nachdenken konnte er nicht mehr richtig schlafen. Als er dann doch endlich eingenickt war, hatte er einen sonderbaren Traum. Beim Aufwachen wusste er, was zu tun war.
Noch am gleichen Tag fuhr er hinaus aufs Meer. Als er zurückkam, versammelte er seine Söhne um sich und sagte: »Hört mir gut zu, denn ich habe euch etwas Wichtiges zu sagen. – Lange schon habe ich überlegt, wer von euch nach mir das Reich regieren soll. Alle drei seid ihr fähige Männer, jeder auf seine Art. Deshalb war die Entscheidung besonders schwer. Jetzt aber liegt es ganz und gar an euch. Ich habe heute weit draußen im Meer die königliche Krone versenkt. Wer sie mir zurückbringt, wird damit zum König gekrönt. Auf euch wartet eine Herausforderung, die eines Königs würdig ist.«
Da begannen die Söhne gleich zu überlegen.
Der älteste Prinz war ein Mann der Tat. Schnell entschlossen rüstete er ein Schiff, verstaute darauf lange Angeln, Seile und Netze und fuhr hinaus auf die See. Weit draußen suchte er das Wasser mit seinen Augen ab. Er nutzte auch Spiegel, mit denen er auf den Meeresgrund leuchtete. Eine Krone würde doch glitzern und funkeln! Wann immer er etwas aufleuchten sah, band er sich einen Strick um die Hüfte und tauchte hinunter. War das Wasser nicht allzu tief, dann versuchte er mit einer Angel sein Glück. Was er aber auch anstellte: Von der Krone war keine Spur zu finden.
Der mittlere der drei Königssöhne ging in die Stadt und verkündete am Marktplatz laut: »Ich rufe alle, die tapfer sind und unerschrocken, alle, denen es weder an Kraft noch an Ausdauer und Mut mangelt: Helft mir die Krone zu bergen! – Unter meiner Herrschaft werdet ihr alle ein gutes Leben haben. Die aber, die das ihre dazu beitragen, dass ich König werde, die werden reich belohnt und in den Rang von Fürsten erhoben!«
Etliche tapfere Männer schlossen sich ihm an. Immerhin konnten sie es auf diese Weise nicht nur zu Ruhm und Ehre bringen, sondern auch zu einem Leben in Wohlstand und Reichtum. Das lockte viele. Miteinander rüsteten sie etliche Schiffe. Diese beluden sie mit großen Netzen. Die konnte man weit spannen und doch waren sie engmaschig geknüpft. Dann fuhren sie hinaus auf die See. Dort warfen sie die Netze von Schiff zu Schiff aus. So fingen sie viele Fische. Die meisten Fische landeten allerdings wieder im Wasser. Wirklich scharf waren die Männer ja auf die Krone. Die aber erwischten sie nicht, gleich was sie auch anstellten.
Der Jüngste von den drei Königssöhnen überlegte lange und gut. Schließlich nahm er seine Laute und ging hinunter zum Strand. Dort suchte er sich einen ruhigen Platz, setzte sich unter einen Baum und brachte die Saiten zum Klingen. Nach und nach wurde aus dem Klang eine Melodie und schließlich ein Lied.
Er sang von den Wellen des Meeres und von ihrem Rauschen, vom Säuseln des Windes in den Bäumen und vom Himmel, der sich über das alles spannt. Dann sang er von den Vögeln, die über den Himmel ziehen und sich von den Wellen treiben lassen. Er sang aber auch von den Tieren, die im Wasser leben: von den Fischen, die klein und zierlich in Schwärmen das Meer erkunden, und von den großen Fischen, die mächtig durchs Wasser pflügen. Er sang von den Kraken, die in der Tiefe harren, und von den Schildkröten, die durch die Wellen rudern. Von den Walen und ihren mächtigen Fontänen sang er und von den lustvollen Sprüngen der Delphine. All das, was da war, besang er gerade so, wie es ihm in den Sinn kam und so gut er nur irgendwie konnte.
Sein Lied war nicht laut, aber es fand seinen Weg hinaus auf das Wasser und wohl sogar mehr als das. Denn plötzlich rollte von weit draußen auf See fast unmerklich eine Welle auf das Land zu. Der jüngste Königssohn war so versunken in sein Spiel, dass er sie erst bemerkte, als sie am weiten Strand ausrollte.
Da war ein Leuchten, wie er es im Wasser noch nie gesehen hatte.
Die Tiere des Meeres brachten ihm die königliche Krone. Durch die vielen Wassertropfen glitzerte und funkelte sie prächtiger denn je.
Dankbar nahm er das kostbare Kleinod und übergab es seinem Vater. Die Wahl war damit entschieden.
Nicht der Mann der Tat wurde der neue König, obwohl es gerade solche Leute sind, die ein Land weiterbringen, und auch nicht der wurde König, der so viele für sich zu gewinnen wusste, obwohl solche Leute für ein Land großen Wert haben, nein: König wurde der, der es verstand, das Lied von dem zu singen, was wirklich ist. Und das war gut so.
mündlich überliefert aus Afrika
Ursula, Heidemarie und Helmut Wittmann