Eine weihnachtliche Begebenheit
Das Elisabethinum in Axams in Tirol ist eine Einrichtung, in der Kinder mit körperlicher und mehrfacher Behinderung betreut werden. Folgendes hat sich dort vor etwa 20 Jahren ereignet:
Kurz vor Weihnachten herrscht im Elisabethinum immer viel Aufregung, immerhin kommt ja das Christkind. In der Woche vor dem heiligen Abend wird an drei Tagen ein weihnachtliches Stück aufgeführt. Damals – vor über 20 Jahren – hat man mit den Kindern die Herbergssuche gespielt.
Es gab unzählige Proben, Kostüme wurden hergerichtet, die Dekoration sorgfältig vorbereitet. Alles fieberte der ersten Vorstellung entgegen. Und endlich war es so weit. Eltern, Verwandte und Ehrengäste waren gekommen.
Nachdem alle ihre Plätze gefunden hatten, wurde es ruhig und bald darauf trat Maria mit Josef an der Hand auf die Bühne. Maria war wunderschön gekleidet und hatte einen stattlichen „Schwangerenbauch“. Nun stand die mühsame Suche nach einem Quartier auf dem Programm. Josef klopfte gleich an der ersten Tür. Das Kind, das die Rolle des schroffen Gastwirtes übernommen hatte, war sehr nervös. Es öffnete, sah die beiden vor sich stehen und in der Aufregung siegte das Herz über den Verstand: „Kemmts eina“, brach es aus ihm heraus.
Das kam für alle Beteiligten überraschend und sorgte für Verwirrung, aber auch für einige Schmunzler. Nach kurzer Zeit war es dann wieder so weit, dass die Herbergssuche weitergehen konnte, wie wir alle sie kennen.
Dieses Kind hat eines ganz richtig begriffen. Wo Not ist, muss man helfen. Da darf ruhig das Herz die Regie übernehmen, weil die Vernunft uns zu oft zögern lässt.
Das Mädchen und der Clown
Es gab eine Zirkusvorstellung mitten in der kleinen Stadt. Sie fand am Tag vor dem Heiligen Abend statt. Es war das Allerschönste für die Kinder! Sie saßen in dem Riesenzelt und freuten sich, wenn die schwarzen Ponys tanzten. Ach, und dann kam der Clown!
Schon als er in die Manege stolperte, erhoben die Kinder ihre Stimmen zu einem einzigen schrillen Schrei des Entzückens. Dieser Clown sprach überhaupt nicht, er brauchte keine Worte, um komisch zu sein. Stumm spielte er den Kindern vor, was sie zu sehen verlangten. Er machte ein Ferkel nach und ein Krokodil und einen Tanzbären. Am komischsten war er, als er einen Hasen nachmachte.
Das war allerdings auch der Moment, in dem der große alte Clown das kleine Mädchen mit der roten Haarschleife entdeckte. Das kleine Mädchen saß zwischen Vater und Mutter in der ersten Reihe. Der Vater neben ihr lachte. Und die Mutter lachte. Nur das kleine Mädchen lachte nicht.
Der alte Clown war so gut wie noch nie. Aber ... es half nichts. Das kleine Mädchen blieb ganz ernst. Und ganz ernst sah es den Clown mit großen, starren Augen an, ohne den Mund zu verziehen.
Das tat dem alten Clown leid. Und dann tat er etwas Ungewöhnliches. Er trat vor das kleine Mädchen hin und fragte es höflich: „Sag' einmal, gefällt dir die Vorstellung nicht?“ Das kleine Mädchen sah ihn starr und ernst an und erwiderte freundlich: „O doch, sie gefällt mir sehr!“ „Ja, aber warum lachst du denn nicht wie all die anderen Kinder?“ fragte der Clown. „Verzeihen Sie bitte“, antwortete das kleine Mädchen, „aber ich kann nicht lachen und möchte Sie auch nicht kränken, nein, ich kann nicht lachen – weil ich Sie nicht sehe, ich bin blind“.
Darauf wurde es in dem Riesenzelt totenstill. Und der alte Clown fragte das Mädchen: „Darf ich dich morgen Abend besuchen, und dann gebe ich dir eine Vorstellung ganz für dich allein. Und du wirst fühlen, was ich dir vorspiele“. Die Eltern waren damit einverstanden, und das Gesicht des kleinen Mädchens strahlte vor Glück.
In dieser Nacht schneite es. Um halb sechs Uhr gab es bei Simone zu Hause die Weihnachtsbescherung. Die Kerzen brannten hell auf dem Christbaum, und das kleine Mädchen betastete all die schönen Geschenke, die auf dem Tisch lagen. Dann fragte es immer und immer: „Glaubt ihr, dass er auch kommt? Glaubt ihr, dass er auch wirklich kommt?“ „Bestimmt“, sagte die Mutter. „Er hat es versprochen.“
Er kam auf die Minute pünktlich. Simone selbst lief hinaus, um die Tür zu öffnen. Auf dem Gang stand der alte Clown. Simone schüttelte ihm die Hand und sagte stotternd vor Aufregung: „Das ... ist ... das ist aber nett, dass Sie wirklich gekommen sind!“
„Aber sicherlich“, sagte der Clown, „jedes Versprechen muss man doch halten“, und überreichte Simone drei Bücher in einer besonderen Schrift, die Blinde lesen können.
Dann nahm er Simone bei der Hand und führte sie zu einem Sessel, der vor dem Weihnachtsbaum stand. Die Eltern sahen schweigend zu, wie der alte Clown Simone auf den Sessel setzte und ihre kleinen Hände ergriff und vor ihr niederkniete. „Streich mal über mein Gesicht“, sagte er dabei. „Und über den Hals. Und über die Schultern. Und die Arme und Beine. Das ist nämlich das erste: Du musst genau wissen, wie ich aussehe.“ Dabei sah der Clown ohne Maske und Kostüm eigentlich gar nicht komisch aus. Das wusste er. „Fertig?“ fragte er. „Und nun weißt du, wie ich aussehe?“ „Genau“, meinte das Mädchen voller Spannung. „Na, dann kann es ja losgehen“, sagte der Clown. „Aber bitte, nimm deine Hände nicht von mir fort. Du musst mich dauernd abtasten, damit du auch alles begreifst, was ich mache.“
„Na klar“, sagte Simone. Und der alte Clown begann zu spielen. Er machte alles noch einmal, was er schon im Zirkus vorgeführt hatte. „Jetzt kommt der Tanzbär“, sagte der alte Clown. Die dünnen, zarten Fingerchen Simones wanderten über ihn, während er den Tanzbären machte. Und noch blieb ihr Gesicht ernst. Aber der Clown ließ sich nicht beirren. Er machte das Krokodil nach. Und danach das Ferkel. Schneller und schneller glitten Simones Finger über sein Gesicht und seine Schultern hinweg, sie atmete unruhig, ihr Mund stand offen. Und auch die Eltern atmeten unruhig. Es schien, als könnte Simone mit ihren kleinen Händen wirklich sehen wie andere Kinder mit den Augen, denn auf einmal kicherte sie. Dünn und kurz. Der große alte Clown verdoppelte seine Bemühungen. Da konnte Simone wirklich lachen.
„Und jetzt kommt der Hase“, sagte der Clown und führte seine Glanznummer vor. Simone lachte lauter, immer lauter. „Noch einmal!“ rief sie selig. „Bitte, noch einmal!“ Da machte der alte Clown noch einmal den Hasen. Und noch einmal.
Simone bekam nicht genug. Die Eltern sahen einander an. So hatte Simone noch niemals in ihrem Leben gelacht. Zuletzt war sie völlig ohne Atem. Sie rief: „Mutter! Vater! Jetzt weiß ich, was ein Clown ist. Jetzt weiß ich überhaupt alles. Das ist ganz bestimmt das schönste Weihnachtsfest, was das Christkind mir geschenkt hat.“
Ihre Wangen glühten. Ihre kleinen Finger glitten noch immer über das Gesicht des alten Mannes, der vor ihr kniete. Und plötzlich erschrak Simone, denn sie hatte bemerkt, dass der große Clown weinte.
Filk-Nagelschmitz, Agnes, in: Unterwegs durch Hell und Dunkel. Geschichten vom Leben und vom Sterben, Salzburg 1984, 21–25 (gekürzt), zit. aus: Scharer, Matthias (2003, 12. Aufl.), Miteinander glauben lernen. Glaubensbuch 5. St. Pölten, 58.